Das Konzept

Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit Behinderungen verstehen
Den Menschen sehen - Die Perspektive ändern

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VErhalten MAcht Sinn - das Konzept

VEMAS 2.0 bietet die Möglichkeit, dass sich das soziale Umfeld einer Person mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten und die Person selbst mit dem Thema Verhalten(sauffälligkeit) konstruktiv auseinandersetzen, mit dem gemeinsamen Ziel, Stigmatisierungen und Diskriminierung des Menschen aufgrund seiner Verhaltensweisen zu vermeiden und die Lebensumstände für Menschen mit Behinderungen so zu verändern, dass neue (andere) Verhaltensweisen erprobt und soziale Teilhabe auch unter ggf. erschwerten Lebensbedingungen möglich werden. 

In VEMAS 2.0 ist die Grundannahme, dass das als auffällig wahrgenommene Verhalten sinn-voll ist.

Um den Sinn und damit die Gründe, die Ursachen usw. des gezeigten (aktiven oder passiven), jedenfalls auffälligen und somit normabweichenden Verhaltens zu ergründen, bedarf es einer fragenden Haltung des sozialen Umfeldes und den Willen aller, sich gemeinsam auf die Suche nach eben dieser Ursachen zu begeben. 

VEMAS 2.0 soll mit Achtung und Respekt vor dem jeweiligen Menschen mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten umgesetzt werden.

VEMAS 2.0 steht für eine achtsame Ethik und die Wahrung der Würde jedes einzelnen Menschen. 

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VEMAS-Mannschaft

Da Menschen sozial verwobene Wesen sind, ist davon auszugehen, dass das gezeigte Verhalten oft (auch) auf externe, das Umfeld betreffende Faktoren zurückzuführen ist. Änderungen von Verhaltensweisen werden meist nur dann eintreten, wenn die durch VEMAS 2.0 neu entwickelten Handlungsoptionen als subjektiv sinnvoll erachtet werden. Das setzt grundlegend voraus, dass das soziale Umfeld sich kritisch hinterfragen möchten und sowohl das Umfeld als auch der adressierte Mensch selbst zu Veränderungen bereit sind.

VEMAS 2.0 ermöglicht eine veränderte Perspektive auf den Menschen und eine andere Sichtweise auf Verhaltensauffälligkeiten. 

Im Fokus von VEMAS 2.0 stehen nicht die Behandlung oder Korrektur des als auffällig wahrgenommenen Verhaltens, sondern vielmehr das (bessere) Verstehen der Gründe und Ursachen (den Kontext, die lebensgeschichtliche Bedeutsamkeit, usw.) dieser Verhaltensweisen. 

Mit VEMAS 2.0 wird auch eine neue Grundhaltung gegenüber behinderten Menschen angestrebt, die sie als sinnvoll handelnde Wesen ins Zentrum rückt.

In VEMAS 2.0 sind vielfältige Produkte entwickelt worden, die es ermöglichen, ausgehend von dem auffälligen Verhalten, mehrperspektivische Informationen über den adressierten Menschen (Subjektiv-individuelle Dimension), das soziale Umfeld (Sozial-interaktive Umwelt-Dimension) und die jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen (Strukturell-institutionelle Dimension) zu erhalten.

Mit der Implementation von VEMAS 2.0 und den damit verbundenen innovativen Produkten soll die Erarbeitung einer verstehenden Grundhaltung erreicht werden. Die Produkte von VEMAS 2.0 ermöglichen vielfältige Perspektivwechsel die ungeahnte Verhaltensursachen (z.B. Medikamente, Biographie, Wahrnehmungsbesonderheiten) offenlegen können. Dadurch sollen Ansätze für neue Handlungsalternativen aller Beteiligten ausgemacht werden und neue Möglichkeiten der sozialen Teilhabe und Inklusion für jeden Menschen individuell entwickelt werden. 

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Ramona_Gründe für VA

Bei der Entwicklung von VEMAS (2.0) war die Erkenntnis leitend, dass die besondere Herausforderung, die sich im Alltag von Menschen mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten zeigt, darin zu liegen scheint, dass deren Verhalten oftmals kaum oder nur schwer nachvollzogen werden kann. 

Aus vielfältigen Gründen sind der soziale Umgang und die pädagogische (medizinische, therapeutische usw.) Arbeit mit dieser Zielgruppe häufig so sehr erschwert, dass diese in ihrem Alltag besonders schwerwiegend diskriminiert, institutionell segregiert und/oder exkludiert werden. D.h. sie können an vielen gesellschaftlichen Aktivitäten (z.B. in den Bereichen Bildung, Arbeit, Freizeit) nicht teilnehmen, werden nicht selten medikamentös sediert oder sogar in mehr oder weniger geschlossenen Einrichtungen untergebracht.

Hinzu kommt, dass diese Personengruppe (zuweilen über die gesamte Lebensspanne) besonders häufig dem Risiko sowohl physischer, psychischer als auch struktureller Gewalt ausgesetzt ist, wie zahlreiche empirische Untersuchungen bis in die jüngste Gegenwart bestätigen[1]. Diese Negativspirale ist oftmals auch der Ohnmacht und Hilflosigkeit seitens des sozialen Umfeldes, also dem Handeln von Eltern, Fachkräften, Erwachsenen in einschlägigen Institutionen, Ärzt*innen, Psychiater*innen usw., geschuldet[2].

Partielle Interventionen in den entsprechenden Teilsystemen des sozialen Umfeldes (z.B. Wohnheim, Werkstatt usw.), wie einzelne Fortbildungstage bieten, wenn überhaupt, nur kurzfristig Hilfe und Unterstützung. 

Die gesamte Lebenswelt der betroffenen Menschen kann aus mannigfaltigen Gründen selten in den Blick genommen werden. Außerdem sind schon vorhandene – meist quantitativ ausgerichtete und präventive – Konzepte meist nicht passend oder nur von kurzer Wirksamkeit und das u.a. auch aus dem Grund, weil sich der hier fokussierte Personenkreis durch ein hohes Maß an Individualität bzw. Heterogenität auszeichnet. 


 

[1] vgl. Mayrhofer, H. et al (2019): Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Verfügbar unter: https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=718 [03.11.2023].

[2] siehe z.B.: Lebenshilfe e.V. (2020): Medienmitteilung. Verfügbar unter: https://www.lebenshilfe.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Presse/MM_Fachverbaende_zu_Corona_20200925.pdf [03.11.2023]. 

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Nigel

Das Konzept VEMAS nimmt seinen Ausgangspunkt bei Menschen mit kognitiven und komplexen Behinderungen, ist aber für alle Menschen mit Behinderungen und darüber hinaus, sowie für alle Altersstufen anwendbar. 

Im Kontext kognitiver und komplexer Behinderungen ist das Thema Verhaltensauffälligkeit besonders bedeutsam, weil diese Personenkreise 

  1. Per se nicht der Norm entsprechen – sie würden sonst nicht als kognitiv oder komplex behindert wahrgenommen werden können.
  2. Weil Menschen mit kognitiven und komplexen Behinderungen sich zumeist nicht, oder nur bedingt, verbalsprachlich äußern können.
  3. Weil diese Menschen oft in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens auf Unterstützung angewiesen sind.

Menschen, die sich nicht oder nur bedingt verbalsprachlich äußern können oder die durch kognitive oder psychische Beeinträchtigungen keine Sprache haben, um ihren Zustand zu beschreiben, sind besonders ohnmächtig der jeweiligen Situation, bzw. dem jeweiligen sozialen Umfeld ausgeliefert. 

Damit Menschen mit kognitiven und komplexen Behinderungen sich mitteilen können, müssen sie häufig durch, bzw. über ihr Verhalten kommunizieren. 

Sie sind demnach in besonders hohem Maße darauf angewiesen, dass der ernste Versuch unternommen wird, sie zu verstehen. 

Das ist jedoch nur möglich, wenn z.B. das ständige Schlagen mit dem Kopf gegen die Wand, das laute Schreien, das Beißen in die Hand, usw. nicht einzig auf die kognitive oder komplexe Behinderung, die Entwicklungs- oder Bindungsstörung, die Doppeldiagnose usw. zurückgeführt wird. 

Es ist folglich unabdingbar, dass Menschen mit kognitiven und komplexen Behinderungen ein bewusstes und intentionales Handeln, bzw. kommunizieren, resp. Verhalten zugetraut und zugesprochen wird!

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Ebru-Platzhalter

Auffällige Verhaltensweisen von Menschen mit Behinderungen werden sowohl in Bildungsinstitutionen (Kindertagesstätten, Schulen usw.) als auch in außer- und nachschulischen Institutionen oft vorschnell als Ausdruck der festgestellten Beeinträchtigung gedeutet und damit auf ein individuelles Defizit zurückgeführt, das so selbstverständlich erscheint, dass die Frage nach dem Sinn dieses Verhaltens gar nicht erst gestellt wird. 

Menschliches Verhalten ist jedoch ein hochkomplexes, subjektives, wie intersubjetives und soziales Geschehen, dass – will man es verstehen – danach verlangt, dass man nach Ursachen, Beweggründen, der möglichen Vorgeschichte, dem Kontext und der situativen Dynamik fragt. 

Die Perspektive des Verstehens von Verhaltensauffälligkeiten als subjektiv sinn-volle Handlungen verfolgt hier einen anderen Weg. Verstehende Ansätze gehen davon aus, dass grundsätzlich jedes menschliche Verhalten einen individuellen Sinn ergibt, der häufig auf unterschiedliche Ursachen oder Gründe zurückzuführen ist. Ziel verstehender Ansätze ist daher nicht so sehr die Kontrolle oder Korrektur der Verhaltensauffälligkeit, sondern die Suche nach Deutungen und einem tieferen Verständnis, um zugleich zu einer veränderten Perspektive auf die bisherige Beziehungs- und Interaktionsdynamik zu gelangen und dadurch neue pädagogische Handlungsspielräume zu eröffnen. 

Obwohl in dieser Richtung seit Jahren schon verschiedene verstehensorientierte Theorien, Ansätze und Konzepte v.a. aus Philosophie (Lévinas, 2017; Waldenfels, 1980; 2016) Psychologie (Gewaltfreie Kommunikation, z.B. Rosenberg, 2016; Mediation, z.B. Kals, 2007) und Soziologie (Schütz, 1932; Schütz & Luckmann, 2017) existieren, finden sie trotz Bemühungen aus der Pädagogik (u.a. Badstieber & Amrhein, 2022; Falkenstörfer, 2022; Jantzen, 2003; Klauß, 2006; Römer, 2018; Ziemen, 2009, 2022) – vermutlich aufgrund der hohen Komplexität – bislang in der pädagogischen Praxis kaum Umsetzung. Diesem Desiderat möchte VEMAS (2.0) begegnen. 

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Verhaltensauffälligkeiten

Neben der informierenden VEMAS 2.0-Handreichung, den zentralen Produkten VEMAS 2.0 Personen- und VEMAS 2.0-Ergebnisbogen sowie den VEMAS 2.0-Portraits sind alle Produkte so konzipiert, dass sie je einzeln, in Kombination oder allesamt Verwendung finden können. 

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VEMAS_Produktpalette

Durch die folgenden VEMAS 2.0-Produkte werden grundlegende Daten erhoben, Beeinträchtigungen durch das auffällige Verhalten in der ICF-Kategorie Aktivitäten und Partizipation ausgewählt und ein Unterstützerkreis installiert:

  • VEMAS 2.0-Personenbogen & VEMAS 2.0-Persönliches Netzwerk: Informationen über das auffällige Verhalten aus Perspektive der Fachkräfte, des sozialen Umfeldes und des Menschen selbst können durch folgende VEMAS 2.0 Produkte erhoben werden. 
  • VEMAS 2.0-Beobachtungsbogen & VEMAS 2.0-Interview für Menschen mit Behinderungen & VEMAS 2.0-Interview für das soziale Umfeld.
  • VEMAS 2.0-Medikamenteninformationen: Hypothesen über das auffällige Verhalten aufgrund von Medikamenteneinnahme können hiermit entwickelt werden.
  • VEMAS 2.0-Biographiearbeit: Informationen über die Biographie und mögliche Gründe für das gezeigte Verhalten aus der Vergangenheit können hiermit reflektiert werden.
  • Durch den VEMAS 2.0-Ergebnisbogen in dem alle Informationen online automatisch und bei analoger Durchführung händisch zusammengetragen werden, können Hypothesen über die Sinnhaftigkeit des gezeigten Verhaltens abgeleitet werden und abschließend, u.a. durch die Berücksichtigung der ICF-Komponente Aktivitäten und Partizipation, die auch bei der Beantragung von Teilhabeleistungen herangezogen wird, Handlungsalternativen entwickelt und ggf. Unterstützungsleistungen dafür beantragt werden.
  • Die VEMAS 2.0-Zukunftsplanung ermöglicht es, während der Durchführung von VEMAS 2.0 oder auch danach die Perspektive gemeinsam mit dem im Fokus stehenden Menschen auf die Zukunft zu richten. Menschen mit Behinderungen sind häufig von fehlenden positiven Zukunftsoptionen betroffen.
  • In den VEMAS-Portraits zeigen sich Menschen, die als verhaltensauffällig etikettiert sind, ganz ohne Verhaltensauffälligkeiten, als Menschen, so wie sie portraitiert werden wollten. Die Portraits dienen als Beispiele, was mit dem VEMAS 2.0 Slogan den Menschen zu sehen gemeint sein kann.

Es ist wahrscheinlich, dass vielfältige Gründe als Ansatzpunkte für das auffällige Verhalten durch VEMAS 2.0 ausgemacht werden können.

  • Problemen des Verstehens und Verständigens z.B. aufgrund fehlender oder eingeschränkter Verbalsprache
  • Individuelle situative Verfasstheit 
  • Das soziale Umfeld betreffende Gründe
  • Die institutionellen Rahmenbedingungen betreffende Gründe
  • Neue – auch überraschende oder schmerzhafte – Gründe aus der Vergangenheit, hinsichtlich der gegenwärtigen (unzufriedenstellenden) Lebenssituation oder aufgrund von mangelnden positiven Zukunftsperspektiven 
  • u.a.m. 

In der folgenden – aus dem VEMAS-Datenmaterial entwickelte – VEMAS 2.0-Grafik Hypothesen für das auffällige Verhalten sind Aspekte, Dimensionen und Themengebiete gebündelt, die auf mögliche Ursachenbereiche hinweisen.

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Hypothesen

In VEMAS 2.0 wird die ICF-Komponente Aktivitäten und Partizipation (Rehadat, 2024)[1] berücksichtigt, die auch bei der Beantragung von Teilhabeleistungen herangezogen wird. Es gibt die Möglichkeit, bis zu drei Teilhabebereiche auszuwählen, die durch die Verhaltensauffälligkeiten beeinträchtigt sind, die demnach ohne Verhaltensauffälligkeiten nicht eingeschränkt wären. 

Folgende, in der Tabelle aufgeführte ICF-Kategorien können in VEMAS 2.0 ausgewählt werden

In welchen Bereichen beeinträchtigen die Verhaltensauffälligkeiten die Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten der Person? 

Die eingeschränkten Teilhabebereiche werden im VEMAS 2.0-Personenbogen zu Beginn von VEMAS 2.0 ausgewählt und finden sich dann im VEMAS-Ergebnisbogen wieder. Dort finden sich dann zahlreiche Ansatzpunkte, wie die eingeschränkten Teilhabebereiche für die Person wieder erschlossen werden können. 

Durch die Wahl der ICF-Komponenten und die Lösungsansätze im VEMAS 2.0-Ergebnisbogen können dann ggf. auch Teilhabeleistungen begründet und fundiert beantragt werden.
 

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ICF-Tabelle
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